Die Baustelle

 
das tibetische Grasland  
entlang der Ströme

Schon bei der Passauffahrt hätte ich es ahnen müssen. Aber da habe ich mir noch nichts dabei gedacht. Entlang der Pass-Straße wurden die Wasserdurchlässe neu gemacht, was in jeder Serpentine mindestens mit einer großen Pfütze oder einer Schlammpassage verbunden war. Aber ich dachte nur, ok, ist halt hier eine Baustelle, der Rest der Straße wird schon in Ordnung sein. Weit gefehlt…

Oben am Pass mache ich erst einmal eine längere Pause und genieße die Aussicht, auch wenn der Himmel bewölkt ist. Vom Pass (3800 m) aus erwartet mich nun eine sehr lange Abfahrt bis auf 3000 m entlang eines großen Flusses. Dann geht es entlang eines anderen Flusses wieder bergauf über den nächsten Pass. Das relativ flache, nur hügelige Grasland liegt nun hinter mir, jetzt begebe ich mich in die Region der großen Flüsse. Die Täler werden steiler und tiefer, die Berge höher.

Die Abfahrt wird immer wieder durch kleinere Baustellen unterbrochen, zudem ärgere ich mich, dass Telefonleitungsmasten und Stromkabelmasten immer genau in den schönsten Aussichten platziert sind. Unterhalb der Masten entdecke ich in einer Wiese jedoch einige neue Blumen, und bin daher etwas versöhnt. Es geht bergab, immer weiter. Der Bach wird zum Fluss, der Fluss mündet irgendwann in einen größeren Fluss, den Nga Chu, und es geht immer noch bergab, bis dieser größere Fluss in den ganz großen Fluss, den Gyarong mündet.

Einige kleinere Dörfer befinden sich entlang der Straße. Meist gibt es auch jeweils ein kleines Kloster und in den Berghängen sind Gebetsfähnchen eingepflanzt. Der Legende nach stellen diese in die Hänge gesteckten Gebetsfahnen große Nägel dar, die die Berge vor Ort verankern, damit sie nicht wegfliegen. Hübsch anzuschauen finde ich sie allemal.

Die Baustellen kommen jetzt in immer kürzerem Abstand. Nicht nur die Wasserdurchlässe werden neu gemacht, sondern allem Anschein nach soll die Straße auch verbreitert werden. Links der Fluss, rechts der Steilhang, da ist auch nicht viel Platz für Ausweichpisten. Dementsprechend ist im Baustellenbereich die Fahrbahnoberfläche der einst schönen kleinen Teerstraße komplett zerstört und man fährt stattdessen durch puddingartigen Schlamm. Dazwischen arbeiten die Baumaschinen, der laufende Verkehr wurstelt sich irgendwie durch, Rinderherden aus dem Dorf queren die Straße und das eine oder andere Mal sitzen einzelne Männer oben im Steilhang und brechen mit der Brechstange die Steine für die Ufer- und Hangbefestigung raus. Nach kurzer Zeit bin sowohl ich, als auch mein Rad komplett mit einer beigen Schlammschicht bedeckt. Was bin ich froh, dass ich mit einer Nabenschaltung fahre, dieser batzige Schlamm hat selbst meine starre Kette mehrfach abgeworfen. Irgendwie ist es aus meinem europäischen Blickpunkt kompletter Wahnsinn, diese Hangstraße auf ganzer Länge gleichzeitig bei laufendem Betrieb in so chaotischer Weise zu bearbeiten. Aber irgendwie bekommen sie es am Ende ja hin.

Zu allem Überfluss beginnt es am Nachmittag auch noch zu nieseln, so dass ich nicht nur von unten, sondern auch von oben nass werde. Ich bin nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll, dass es nur nieselt und ich nicht so nass werde, oder ob ich mir lieber wünschen sollte, dass es richtig schüttet, so dass alles wieder sauber wird...
Ganze zwei Tage kämpfe ich mit der Baustelle. Wenn nicht die eindrucksvollen Wälder an den Hängen zu bewundern wären, in denen nach dem Regen der Nebel aufsteigt, oder die kleinen Dörfer mit den schmucken Häusern, die ich so mag, oder der braune Fluss mit den Stromschnellen und Felsen, in den immer wieder klare Bergbäche einmünden, dann könnte man schon an dieser Strecke verzweifeln mit all dem Dreck und Schlamm.

Plötzlich (nach immerhin 150 km), an einer neuen (!) Betonbrücke ist die Baustelle zuende, und ich befinde mich wieder auf gutem Asphalt. Hier ist wohl eine Distriktgrenze und der jetzige Distrikt ist mit den Bauarbeiten wohl schon fertig, denn die Straße macht einen eher neuen Eindruck. Egal, ich bin froh, nun wieder vernünftig radeln zu können. Der ersten von der Straße aus zugängliche Seitenfluss dient dann auch dazu, Rad und Packtaschen gründlich zu waschen!

das tibetische Grasland  
entlang der Ströme