Verzweifelter Kampf gegen die Müdigkeit

Erfahrungsbericht von Andy Heßberg

"Bekommt ihr dafür Geld?", werden wir im Vorfeld des Rennens von Freunden gefragt, die es nicht fassen können, dass man sich freiwillig derartig körperlich schinden kann. Unsere Antwort lautet stets gleich: "wir müssen dafür sogar noch etwas bezahlen!" Worin also liegt der Reiz, sich von Paris nach Brest an der Atlantikküste und wieder zurück über 1.230 km und 10.000 Höhenmeter zu quälen? Eine Antwort darauf findet man vielleicht bei der folgenden kleinen Reportage.


Waltraud, Andy, Wolfgang und Fiana

die deutschen Teilnehmer

Andy's und Waltraud's Fahrräder

Es ist Montag Mittag, noch 8 Stunden bis zu unserem Starttermin. Wir sitzen vor unserem Zelt und kochen Nudeln mit viel Soße. Die körpereigenen Depots werden bis zum Anschlag aufgefüllt. Auch das muss geübt sein. Wenn man vor so einem Langstreckenrennen nicht Unmengen vertilgen kann, sind Schwierigkeiten unterwegs schon vorprogrammiert. Nach dem üppigen Essen werden noch kleinere Basteltätigkeiten an den Rennrädern vorgenommen und die Ausrüstung für die nächsten drei Tage wird am Rad verstaut. Wir werden das Radrennen traditionell 'by fair means', also ohne Begleitfahrzeug absolvieren. Drei Tage mit dem Rad unterwegs zu sein heißt somit auch, für drei Tage das Wichtigste dabei zu haben: Energieriegel, Vitamin- und Mineralpulver für die Trinkflaschen, Ersatzbatterien für die Lampen, Werkzeug, warme Bekleidung für die Nächte und die Regenbekleidung im Fall eines Wetterumschwungs.

Montag 20:15 Uhr. Die Nervosität steigte bei allen Beteiligten als die erste Gruppe mit 200 Radfahrern um genau 20 Uhr in Richtung Brest davon jagte. In dieser Gruppe sind auch die potentiellen Spitzenfahrer, die um den Sieg kämpfen. Alle 15 Minuten werden nun 200 Fahrer auf die Strecke gelassen. Unter großem Beifall der vielen hundert Zuschauer fährt unsere Startgruppe endlich los. Unser Anfangstempo ist gemütlich und vorsichtig, denn bei 200 Radfahrern ist schnell ein Sturz provoziert. Zur Sicherheit fährt ein Kontrollwagen der Rennleitung die ersten 10 km vor uns her. Damit sich der große Starterblock auseinanderzieht, geht es auf der für den Autoverkehr gesperrten Stadtautobahn von Paris in Richtung Westen.

Montag 21:30 Uhr. Die erste Abenddämmerung setzt ein. Bis zum Ziel werden es vier Abende sein. Der Himmel ist leicht bewölkt und die Temperatur ideal, um Tempo zu machen. Unsere Fahrgeschwindigkeit liegt allerdings bei nur 27 km/h, was an den vielen zu erklimmenden Hügeln liegt. Die Strecke ist leider alles andere als flach. Man kann keinen Rhythmus finden, weil man ständig wieder in einen höheren oder niedrigeren Gang schalten muss. Der Anblick eines schwer verletzten Radfahrers des ersten Startblocks, der von Sanitätern am Straßenrand versorgt wird, ermahnt weiterhin zur Vorsicht, besonders bei den kommenden Nachtfahrten.

Dienstag 02:00 Uhr. Die erste Kontroll- und Verpflegungsstation in Mortagne au Perche ist nach 141 km erreicht. Kontrollkarte abstempeln lassen, die Trinkflaschen auffüllen. Das Angebot an warmen Gerichten reicht von Nudeln über Reis zu Kartoffelbrei mit Soße, Fleisch und Käse. Dazu gibt es verschiedene Süßspeisen und Obst. Was nützt aber das reichhaltige Angebot, wenn man nichts hinunter bekommt. Mein Schluckmechanismus streikt. Ich kann nur noch flüssige Nahrung zu mir nehmen. Bei einem Verbrauch von ca. 5000 kcal pro Tag wird das nicht reichen. Ich zehre die nächsten Stunden von meinen Reserven und hoffe, dass sich das Essensproblem wieder gibt.


Start um 20:15 h

Frühstück an einer Bäckerei

zwei dänische Fahrer bei der Mittagsrast

Dienstag 11:00 Uhr. Wir haben ein Viertel der strecke geschafft und sind nach 311 km in der Stadt Fougeres, nördlich von Rennes, mitten in der Normandie angekommen. Das Wetter ist sonnig und warm und lässt uns rasch vorankommen. Regen ist das Schlimmste was einem Langstreckenradfahrer passieren kann, weil die Auskühlung dadurch unvermeidbar ist. Trotz des reichhaltigen Angebotes an Speisen kann ich immer noch keine feste Nahrung hinunterschlucken. Ich kann zwar im Windschatten von Waltrauds Fahrrad fahren und so einiges an Energie einsparen, aber das beruht auf dieser Langstrecke auch auf Gegenseitigkeit.

Mittwoch 03:00 Uhr. Wir sind erschöpft und übermüdet. Nach 529 km erreichen wir das Städtchen Carhaix-Plouger in der Bretagne. Die Nachtfahrten sind etwas weniger anstrengend als erwartet, weil der Mond Licht auf die Landschaft wirft, durch die wir jagen. Schon in der vorangegangenen Kontrollstation in Loudeac hatten wir uns eine Stunde hingelegt, um für die lange Nachtfahrt ausgeruht zu sein. Bis 3 Uhr früh hatte das aber nicht ausgereicht. Wir müssen uns hier noch mal kurz hinlegen. Der Körper kann nach mehr als 24 Stunden Dauerbelastung seine Temperatur nicht mehr aufrecht halten. In den Matratzenlagern der Stationen gibt es dicke Decken und viele schnarchende Radfahrer. Spätestens nach 2 Minuten ist man selbst im Reich der Träume. Natürlich läuft die Zeit während der Pausen weiter, was uns daran hindert länger als eine Stunde zu schlafen.

Mittwoch 9:30 Uhr. Der Atlantik bei Brest und somit die Hälfte der Strecke ist mit 611 km erreicht. Es gibt frisches Baguette mit Käse oder Schinken belegt. Selbst bei einem Radrennen verzichten die Franzosen nicht auf ihr Stangenweißbrot zum Frühstück. Zumindest bekomme ich endlich wieder größere Mengen feste Nahrung hinunter, was auch dringend Zeit wurde. Der zweite Tag begrüßt uns mit einem wolkenlosen Himmel, was allerdings auch viel Flüssigkeitsverlust bedeuten wird. Nun werden all die Kilometer wieder zurück gespult. Das gibt einen kräftigen inneren Auftrieb. Den brauchen wir auch, denn die Berge im Hinterland von Brest sind lang und kräftezehrend.


Morgenstimmung kurz vor Brest

Andy mit Blick auf den Atlantik

Waltraud bergab fahrend

Mittwoch 20:00 Uhr. Nach nunmehr 773 km erreichen wir das Städtchen Loudeac. Ein weiterer Tag vergeht. Für die kommende Nachtetappe wollen wir so lange wie möglich im Dämmerlicht fahren und gestalten die Pause nur sehr kurz. Inzwischen schaffe ich einen voll beladenen Teller Nudeln mit Gemüse, Soße und Käse in weniger als zwei Minuten. Die Energiezufuhr ist also wieder geregelt. Dafür schmerzen inzwischen Hinterteile und Handballen aufgrund der rauen Straßenoberflächen. Die grobkörnige Oberfläche - mit unserem glatten Asphalt nicht zu vergleichen - verlangt dem Körper und dem Fahrrad einiges ab.

Donnerstag 01:00 Uhr. Tinteniac ist erreicht und wir klappen vor Müdigkeit zusammen. Nach 859 km ist nichts mehr im Körper, was die Schläfrigkeit verhindern kann. Wir wanken ins Schlaflager und fallen in einen einstündigen Tiefschlaf. Als wir wieder geweckt werden, wissen wir zuerst nicht mehr, wo wir sind. Die Tageszeit, ja sogar der Wochentag verwischen mit zunehmender Dauer der Belastung. Aber wir trösten uns mit dem Gedanken, dass es bis Paris nur noch 370 km sind, also wahrscheinlich etwa 24 Stunden.

Donnerstag 07:00 Uhr. Ein orangeblauer Himmel kündigt einen weiteren sonnigen Tag an. Wir haben wirklich Glück mit dem Wetter. Soeben haben wir die Station in Fougeres verlassen und fahren durch die offene Landschaft der Normandie. Große Flächen Acker- oder Grünland, durchsetzt mit Hecken und kleinen Dörfern charakterisieren diese alte Kulturlandschaft. Allerdings sind die Wiesen braun und das Laub an den Bäumen welk. Der extrem heiße Sommer hat auch hier seine Spuren hinterlassen. Die hohen Ozonwerte in dieser landwirtschaftlich intensiv genutzten Region belasten zunehmend unser Atmen. Das schnelle und intensive Keuchen auf dem Fahrrad verstärkt die Reizungen auf der Zunge und im Rachen zusätzlich. Waltraud bekommt erste Probleme mit ihren Kniegelenken, die jedoch mit einer kontinuierliche Dosis Aspirin in den Griff bekommen werden.

Donnerstag 12:00 Uhr. Die 1000 km und die Station in Villaines la Juhel sind erreicht. Nur noch 230 km bis zum Ziel. Jetzt erst mal eine gute Mittagsrast vor dem Schlusssprint. Nicht unerwähnt bleiben darf die Begeisterung bei der entlang der Strecke lebenden Bevölkerung. In den kleinen abseits der Touristenpfade gelegenen Dörfern der Normandie und Bretagne passiert das ganze Jahr über nicht viel. Wenn dann alle vier Jahre dieses Rennen ausgetragen wird, sind die rennradfanatischen Franzosen nicht mehr zu halten. Da werden kalte Getränke oder Kaffe angeboten, wird laut Musik gespielt oder einfach mit dem Gartenschlauch auf die verschwitzten Pedalritter gehalten. Das wird sich am dritten Tag unserer Tortour als sehr angenehm erweisen, denn die einzelnen Verpflegungsstationen liegen ca. 80 km auseinander und bei heißen Temperaturen reicht der Inhalt der drei Trinkflaschen gerade so aus.

Donnerstag 22:00 Uhr. Inzwischen sind wir über 3 Tage unterwegs und ein Ende ist absehbar. Die letzte Versorgungsstation in Nogent le Roi ist erreicht. Wir kämpfen mit allen möglichen Schmerzen. Waltrauds Rachenraum ist so wund, dass ihr das Schlucken fester Nahrung heftige Schmerzen bereitet. Meine Fußballen und die Nagelbetten der großen Zehen sind wund. Selbst eine Kühlsalbe hilft nichts mehr. Der Sattel ist zwar nach 1167 km noch immer angenehm, aber die Sitzbacken sind ebenfalls wundgescheuert. Der grobe Asphalt erschüttert die Hände so stark, dass Teile der Finger taub sind. Obwohl es nur noch ca. 60 km bis zum Ziel sind, gönnen wir uns eine Pause. Die letzte Etappe wartet mit einigen Anstiegen auf uns.

Freitag 01:45 Uhr. Die Außenbezirke von Paris sind erreicht. Um die Uhrzeit steht niemand mehr entlang der Straßen und jubelt. Die Dunkelheit weicht allmählich der Straßenbeleuchtung der Stadtautobahn. Die Nacht ist nun unser Vorteil: wir fahren die letzten 10 km auf der leeren Stadtautobahn, statt den parallelen Radweg zu benutzen. Die Ampeln sind ausgeschaltet und die Kreisverkehre nicht verstopft. Wir rasen zügig unserem Ziel entgegen.

Freitag 02:15 Uhr. Nach 78 Stunden und 1230 km sind wir glücklich aber total erschöpft am Ziel im Pariser Stadtteil Saint Quentin en Yvelines angekommen. Die Magnetkarten werden durch die Lesegeräte gezogen, das Kontrollheftchen abgegeben und die 3 km zum Campingplatz gemächlich zurück gerollt. Wir kennen nur noch eine Sache: Schlafen.


Blumenschmuck am Straßenrand

an der letzen Kontrolle

nach 78 h im Ziel

Radmarathons gibt es viele, aber wer wirklich seine eigenen mentalen und körperlichen Grenzen erfahren möchte (im wahrsten Sinn des Wortes), der sollte sich am Super-Marathon Paris-Brest-Paris versuchen. Dieses traditionsreiche Rennen ist ideal dafür das vorher scheinbar Unmögliche trotzdem möglich zu machen.

Hintergrund-Information zu Paris-Brest-Paris

Das Langstreckenrennen Paris-Brest-Paris fand 2003 seit 1891 zum 15. mal statt (seit 1971 im vierjährigen Rhythmus) und ist somit eines der ältesten Radrennen der Welt. Es wird organisiert vom Audax Randonneur Club Paris. Das Rennen sollte eine Demonstration der Leistungsfähigkeit, Vielseitigkeit und Reichweite des Fahrrades darstellen. Der ursprüngliche Gedanke dabei war, während der Fahrt nur auf die allgemeine Versorgung entlang der Strecke zurückzugreifen und alles Notwendige selbst zu transportieren.

Die Qualifikationsrennen sind in allen Ländern gleich. Die diesjährige Konditions-Elite der Welt bestand aus 4176 gemeldeten Teilnehmer, bis zum Ziel kamen ca. 3445. Der Frauenanteil liegt bei nur 6.5% der Teilnehmer. Die Franzosen stellten mit ca. 2000 die Hälfte des Kontingentes. Die deutsche Mannschaft war mit 202 Radfahrern nach den US-Amerikanern, den Briten und Italienern die viertstärkste ausländische Mannschaft. Selbst Teilnehmer aus Südafrika, Argentinien, Australien, Japan, Russland oder Mexiko traf man unterwegs. Der Sieger fuhr die Strecke übrigens in 42 Stunden und 40 Minuten!
Höhenprofil von Paris-Brest-Paris