| Ich 
          habe Durst. Der Gaumen ist trocken, und meine zwei Trinkflaschen sind 
          leer. Zur nächsten Verpflegungsstation sind es etwa noch 25 Kilometer, 
          also versuche ich die eigene Dehydrierung zu vergessen, fange an, meinen 
          Rhythmus wiederzufinden, und denke an andere Dinge, zum Beispiel an 
          Schlaf. Den habe ich bald genauso nötig - die Uhr zeigt 1:15. Ich 
          fahre durch die Nacht. Da kommt auch mal wieder der Gedanke auf: Wozu 
          mache ich das alles? | 
       
        |  Norwegische Soldaten 
            fahren auch mit (1993) |  Auf dem Dovrefjell 
            (1993) .
 |  ... und das Elchschild... 
            (1993) .
 |  | 
       
        | Das wohl bekannteste Langstreckenrennen 
            in Europa hat seinen eigenen Reiz und eine Anziehungskraft, die es 
            mit keinem anderen Radrennen vergleichbar macht. Die Strecke von Trondheim 
            nach Oslo ist alles andere als flach, und der nördliche Breitengrad 
            bewirkt, dass man in 1.000 Metern Höhe neben Schneefeldern fährt. 
            Zur Kälte und dem Wind gesellt sich das durch die Nähe zum 
            Atlantik ver-ursachte, stets launenhafte Wetter. Geht es dann auch 
            noch durch die Nacht, sind die physischen und psychischen Grenzen 
            schnell erreicht. Die Distanz von 550 Kilometern schreckt natürlich 
            nur noch die Neulinge. Alteinge"fahrene" Leidensgenossen 
            wissen, dass das Rennen eigentlich erst ab Liliehammer (Km 360) beginnt. 
            Das vorher Geleistete ist nur ein großer Ausflug. Dabei sollte 
            ich mich nicht beschweren. Nehme ich doch zum fünften (!) Mal 
            am "Store Styrkeprøven" teil und habe schon vieles 
            erlebt. Da waren die Jahre '90 und '93 mit gutem Wetter in Trondheim 
            und Regen in der Region Oslo. Oder die Rennen '91 und '94 mit Kälte, 
            Regen und Wind. Besonders im vergangenen Jahr war es einfach brutal. 
            Der Sturm auf der Hochebene Dovrefjell hatte mich von der Seite gepackt 
            und den 1,5 Meter tiefen Straßendamm hinuntergeworfen. Ganze 
            Pulks fuhren ineinander, weil die Fahrer ihre Lenker in den Böen 
            nicht mehr halten konnten. Dazu kamen teilweise Dauerregen und eine 
            ekelhafte Kälte. Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich 
            in eine Verpflegungsstation einfahren und runterschalten will. Aber 
            die Finger waren nicht mehr in der Lage, den Hebel zu bedienen. Und 
            wie sieht es in diesem Jahr aus? | 
       
        |  Auf der E6 von 
            Trondheim nach Oslo (1995) |  so macht's Spass 
            (1995) .
 |  Zieleinfahrt in 
            Oslo (1995) .
 |  | 
       
        | Ich freue mich, als hätte ich 
            das Ziel schon erreicht. Cirka zwei Stunden hinter Trondheim verdünnt 
            sich die morgendliche Bewölkung, und es wird ein traumhafter 
            Tag mit diesem Blau am Himmel, das so typisch für den Norden 
            ist. Ich bekomme immer wieder Begeisterungsschübe, verschärfe 
            mein Tempo unbewusst und ziehe ständig meine kleine Kamera aus 
            der Trikottasche. Die Freunde, mit denen ich um 8:48 Uhr gestartet 
            bin, habe ich längst verloren. Die Gruppe um Axel Fehlau ist 
            bereits am Ortsrand von Trondheim davon geschossen. Mit ihren heckverkleideten 
            Liegerädern wollen sie an die 15-Stunden-Marke herankommen. Ich 
            möchte den Schnitt von 30 km/h nicht zu stark überschreiten, 
            dafür lieber am Ende den Rest an Power raushauen. So fahre ich 
            erst mal eine Zeit lang alleine gegen den Luftwiderstand an. Der Wind 
            ist vernachlässigbar. Ich komme gut voran, aber 1.4 Liter sind 
            viel zu schnell ausgetrunken, und ich muss nach 136 Kilometern an 
            der zweiten Station anhalten. Schnell noch etwas Festes reinstopfen 
            und zwei Bananen ins Trikot stecken, dann geht's zehn Minuten später 
            weiter. Ich bin wild darauf, ins Hochland zu kommen. Nach 160 Kilometern 
            habe ich den höchsten Punkt erreicht. Auf den Parkplätzen 
            stehen die Begleitfahrzeuge dicht an dicht. In der Regel braucht man 
            hier oben auf der Hochebene etwas Warmes, Regen- und Winddichtes. 
            Stattdessen wird diesmal in kurzen Ärmeln übers Dovrefjell 
            gewetzt. Auf 1,050 Metern Höhe ist ein großes Zelt aufgebaut. 
            Ich bunkere erneut Bananen und Flüssigkeit, werfe zwei Scheiben 
            Brot ein und jage wieder davon. Ich bin derartig begeistert von der 
            Landschaft, dem Wetter und meiner Geschwindigkeit, dass ich übermütig 
            werde. Ich drücke am Straßenrand stehenden Touristen meine 
            Kamera in die Hand, wende und fahre noch mal an ihnen vorbei. Seit 
            ich dieses Rennen fahre, bin ich immer wieder erstaunt, mit welcher 
            Begeisterungsfähigkeit es die Norweger schaffen, die Radfahrer 
            aufzupeitschen. Ein Ruf wird zum Mittelpunkt aller Begegnungen längs 
            der Piste: Heja-heja-heja! Die Einheimischen veranstalten Parties 
            oder Grillabende in ihren Vorgärten, sitzen mit auf gedrehten 
            Radios und vielen Flaschen Bier in Liegestühlen oder rufen fahnenschwenkend 
            von ihren Balkonen. Die Adrenalinschübe sind eine prickelnde 
            Abwechslung im gleichmäßigen Rhythmus des Vorwärtskämpfens. 
            Dann kommt die Abfahrt nach Kvam. Fast 75 Kilometer geht es bergab. 
            Am Anfang natürlich sehr steil und gefährlich. Da kommt 
            jetzt mein 4.9er Übersetzungsverhältnis zum vollen Einsatz. 
            Bei 85 km/h überholt mich keiner mehr. An einer Getränkestation 
            flitze ich mit 40 Sachen vorbei. Nach zehn Stunden und fünf Minuten 
            bin ich in Kvam bei Kilometer 280. Die Hälfte der Strecke liegt 
            schon hinter mir - ebenso auch die langen, energieraubenden Anstiege.An der Verpflegungsstation treffe ich Julia aus meinem Startpulk. 
            Sie fährt mit ihrem Liegerad zum ersten Mal bei diesem Radmarathon 
            und hofft, unter 24 Stunden zu bleiben. Wir setzen uns für eine 
            halbe Stunde, plaudern ein wenig, massieren die Füße und 
            versuchen, einiges an fester Nahrung aufzunehmen. Langsam aber sicher 
            hört der Magen auf, Hungergefühle zu entwickeln, die Geschmacksnerven 
            sind taub, und die Kau- und Schluckmechanismen verweigern ihren Dienst. 
            Wer sich aber seiner Appetitlosigkeit hingibt, wird schnell - zu schnell 
            - merken, dass er große Probleme bekommt. Merkt man, dass sich 
            der Hunger einstellt, ist es bereits zu spät. Ein Leistungsabfall 
            ist dann nicht mehr zu verhindern. Ich fühle mich fit und sehe 
            keine Probleme, hinter Lillehammer das Rennen "starten" 
            zu können.
 Inzwischen haben wir unsere wärmere Bekleidung angezogen und 
            fahren in die Nacht. Die nächsten drei Stunden sind die härtesten 
            des Rennens. Jetzt gilt es, den toten Punkt zu überwinden. Ab 
            1 Uhr früh stecke ich mir die Kopfhörer meines Discman in 
            die Ohren und lasse rockige Musik dröhnen. Die Nacht ist warm 
            und trocken - keine Wolke am Himmel. Ich träume vor mich hin, 
            summe mit der Musik oder versuche, die Landschaft im Dunkeln zu erkennen. 
            Der monotone Rhythmus der Atem- und Trittfrequenz befördert mich 
            in eine Art Trance. Ich bin von meiner Außenwelt abgeschnitten, 
            kenne nur noch eine Welt: mein Fahrrad und mich.
 | 
       
        |  Das Rennen aus 
            der Perspektive des Stokers Axel Fehlau (1996) |  Heisse Suppe an 
            einer Verpflegungsstation... (1996) .
 |  Axel Fehlau und 
            Andy mit dem Renntandem (1996) .
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        | Drei Uhr früh. Noch cirka 30 
            Kilometer oder eine Stunde bis zur Verpflegungsstation in Vikselv. 
            Ich bin jetzt schon 19 Stunden unterwegs und spüre noch kein 
            Zeichen von Kraftlosigkeit. Ganz im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, 
            mit meiner Energie bisher zu gut gehaushaltet zu haben. Dagegen kann 
            man etwas tun: Tempo verschärfen! An der Station gönne ich 
            mir zehn Minuten Aufenthalt, stecke noch zwei Bananen in die Tasche 
            und nasche mal an einem Käsebrot. Schnell sitzen wir wieder auf 
            den Rädern. Also raus auf die Piste und beschleunigen. Es geht 
            leicht einen Berg hinunter, was mir hilft, meinen Tritt- und Atemrhythmus 
            wiederzufinden. Aber der Körper reagiert nach 450 Kilometern 
            ohnehin wie eine Maschine. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, 
            bin ich wieder bei meiner Fahrtgeschwindigkeit. Dann plötzlich 
            die Wendung bei diesem Radmarathon: ein Schild mit dem Aufdruck "100 
            km til Oslo". Ab jetzt wird rückwärts gezählt, 
            und dazu noch zweistellig. Außerdem wird es langsam hell, was 
            zusätzlichen Auftrieb bringt. Vor mir liegt der Wille, einen 
            100-Kilometer-Schlußsprint hinzulegen! Die Kilometer reduzieren 
            sich. Ich erinnere mich an eine Trainingseinheit von 90 Kilometern. 
            Dann an eine von 80. Was sind schon 70 Kilometer? Bei 60 weiß 
            ich: nur noch zwei Stunden bis Oslo. Bei "50 km til Oslo" 
            ist noch mal eine Futterstation für die, die für die letzten 
            Berge keine Kraft mehr haben. Bis hierher hat ein einzelner Fahrer 
            es geschafft, mich zu überholen. Jetzt biegt er ab. Ich habe 
            noch eine Banane, einen Energieriegel und etwa einen halben Liter 
            Wasser - das muss reichen. Mit cirka 33 km/h fahre ich auf die 40-Kilometer-Markierung 
            zu. Die Hügel werden immer ärgerlicher. Kaum noch eine flache 
            Strecke. Der Morgendunst lichtet sich, und die Sonne fängt wieder 
            an, einen heißen Sommertag herunterzubrennen. Kurz hinter Klöfta 
            wagen es vier Fahrer, mich zurückzulassen. Ich werde nervös, 
            verschalte mich an einem Berg, und mit einem Schlag sind sie 50 Meter 
            vor mir. O.k. Ich muss mich sammeln und zur gewohnten Form finden. 
            Wäre doch gelacht. Aber ein anderes "Problem" tritt 
            auf: Die Blase meldet sich, und ich muss anhalten. Das zweite Mal 
            seit Trondheim... | 
       
        |  Andy und Frank 
            (1993) |  Ein Pulk an Rennfahrern 
            (1993) |  Fahren in die Nacht 
            (1996) |  | 
       
        | Im Nahbereich von Oslo sind noch 
            mal drei ganz gemeine Wadenbeißer zu schaffen. Vor allem der 
            vorletzte Anstieg im Stadtgebiet hat es in sich. Inzwischen wird auch 
            die Sonne zur Plage. Die Thermowäsche unter dem Trikot ist mehr 
            als lästig. Außerdem habe ich noch immer meine helle Brille 
            von der Nachtfahrt auf und bin jetzt zu faul, für eine Stunde 
            die Gläser zu wechseln. Also Augen zu und durch. Der letzte Schluck 
            aus der Flasche ist getan und die letzte Banane hinuntergewürgt. 
            Das nächste halbe Jahr esse ich bestimmt keine Bananen mehr. 
            Dann sehe ich wieder zwei der vier Fahrer von vorhin. Jetzt aber los! 
            Hab sie am Berg klassisch abgeledert.Dann eine super Abfahrt auf einer vierspurigen Straße. Ich rase 
            alleine auf einen Kreisverkehr zu. Bevor der Rennhelfer die Arme geschwenkt 
            hat, bin ich auf der anderen Seite schon abgebogen. Mit 60 km/h brettere 
            ich nach Oslo hinein. Mein Tacho zeigt 550 Kilometer an. Von den letzten 
            Jahren weiß ich, dass es noch zwei Kilometer sind. Dann noch 
            mal ein Kreisel. Hier nach rechts abbiegen. Die Ordnungshüter 
            feuern mich an. Hinter mir kein weiterer Fahrer. Ich kann also alleine 
            über die Ziellinie. Ah! Da ist schon das Eisstadion in Sicht. 
            Zweimal noch um die Kurve und auf die Zielgerade. Ich werde das Tempo 
            nicht verlangsamen. Die Zuschauer sollen ja auch ihren Spaß 
            haben. Ich habe jetzt 23 Stunden Spaß gehabt und freue mich 
            auf eine Dusche und einen Plausch mit den anderen Radfahrern. Ich 
            fahre durchs Ziel, in der einen Hand den Foto, mit der anderen Hand 
            eine Spur auf den Teer schmierend. Vollbremsung. Von 35 auf 0 in drei 
            Sekunden. Die Leute haben was zu Lachen. Ich steige gar nicht vom 
            Rad, sondern fahre direkt auf den Parkplatz zu unserem Auto. Ich hole 
            mein Handtuch und wanke zur Dusche. Ein wenig Pudding ist schon in 
            den Knien.
 Wenn die stressige und sehr teure Anfahrt mit Auto, Fähre und 
            Zug nicht wäre, würde ich mit Begeisterung jedes Jahr wieder 
            mitfahren. Aber eines ist klar: jeder nur halbwegs auf Kondition ausgerichtete 
            Radfahrer sollte einmal dieses "große Kräftemessen" 
            mitgefahren sein. Es ist es wert. Mit allem, was dazugehört.
 | 
    
    Das Rennen findet immer am Mittsommerwochenende statt. Anmeldungen sind 
      ab Dezember möglich und erfolgen durch die Überweisung der Startgebühr. 
      Gestartet wird ab 8 Uhr früh alle zwei Minuten im einem Pulk von je 
      70 Fahrern. Die Räder müssen mit Licht ausgestattet sein, Helm 
      ist ebenfalls Pflicht. Triathlonlenker und ähnliches sind seit 1991 
      verboten. Liegeräder inzwischen auch, was man so hört. Rucksäcke, 
      Koffer etc. mit dem Gepäck werden per Lkw von Trondheim nach Oslo gebracht 
      und dort nach Startnummern wieder ausgegeben. Das Ziel in Oslo war früher 
      an einer Schule. Hier gab es genug Duschen, eine große Essensausgabe 
      und eine Turnhalle, wo Matratzen zum Schlafen bereitlagen. Inzwischen ist 
      das Ziel im Hafen von Oslo (noch mal 2 km längere Rennstrecke durch 
      die Stadt), wo die Infrastruktur für die Fahrer relativ schlecht organisiert 
      ist. 
      Die Begleitfahrzeuge müssen angemeldet sein und unterliegen eigenen 
      Regeln. Da auf den kurvigen Strecken ein Überholen der Fahrerpulks 
      oft nicht möglich ist, bilden sich riesige Fahrzeugschlangen der Begleitfahrzeuge. 
      Das führt oft zu riskanten Manövern und Belastungen für die 
      Radfahrer. Daher wird dringend empfohlen, ohne Begleitfahrzeug das Rennen 
      anzugehen, mit dem Zug von Oslo nach Trondheim zu fahren und das Auto am 
      Ziel oder gar in Kiel stehen zu lassen. In einem kleinen Rucksack bekommt 
      man Werkzeug, Energieriegel, wärme und regendichte Bekleidung unter.
      Höhenprofil 
      von Trondheim-Oslo